Veranstaltungsrückblick: Nichtwissen ist tödlich

Die Ereignisse um den Hamas-Anschlag auf Israel vom 7. Oktober 2023 werfen viele Fragen auf: Wie haben die Geheimdienste die nahende Katastrophe nicht erkennen können, auf welchen Ebenen sind sie gescheitert? Am 6. Mai 2025 fand zu diesem Thema eine Veranstaltung im Deutschen Spionagemuseum statt.

BND-Agent mit außergewöhnlichem Erfahrungsschatz

Als Experte saß auf dem Podium des Deutschen Spionagemuseums Gerhard Conrad, ehemaliger Chef des Leitungsstabes des BND sowie bis zu seiner Pensionierung Leiter des EU Intelligence and Situation Centre (EU-INTCEN) in Brüssel.

Gemeinsam mit Moderator Helmuth Müller-Enbergs gab er an diesem Abend Einblick in seine jüngste Publikation Nichtwissen ist tödlich. Diese beschäftigt sich vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 mit den komplexen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Nahen Osten aus nachrichtendienstlicher Sicht.

Gerhard Conrad und Helmut Müller-Enbergs auf dem Podium im Deutschen Spionagemuseum (v.l.n.r.)

Conrad hat eine außergewöhnliche Karriere hinter sich: Der studierte Völkerrechtler und Politologe promovierte in Islamwissenschaften und landete schließlich als Verhandler beim BND. Er begann als logistischer Unterstützer und rutschte seiner Aussage nach „mehr durch Zufall als gezielt“ in die Rolle des Chef-Verhandlers. Als BND-Resident in Damaskus verhandelte er streng geheime Geisel- und Gefangenenaustausche zwischen Iran, Hisbollah und Israel.

Wie konnten israelische Geheimdienste die Pläne der Hamas übersehen?

Das Kernthema des Abends stellten die Angriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und die Frage dar, inwiefern die israelischen Geheimdienste bei der Früherkennung versagt haben. Denn da ein Versagen vorlag, war für Conrad klar: Man könne nicht umhin, von einem Intelligence Failure, einem klaren Versagen auf Geheimdienst-Ebene zu sprechen.

Eigentlich hätte ein Geheimdienst in dem Fall, dass bestimmte Akteure als potenzielle Gefahren erkannt worden sind, technische und menschliche Sensoren etablieren müssen, um vor gefährlichen Entwicklungen gewarnt zu werden. Hier sei nicht bedacht worden, was er auch zum Titel seines Buches gemacht habe: „Nichtwissen ist tödlich“.

Offenbar habe es eine fatale Fehleinschätzung bezüglich der Gefahrensituation gegeben. Man könne nur mutmaßen, aber es sehe so aus, als ob die israelischen Sicherheitsorgane wegen einer vorhergehenden Ruhephase davon ausgingen, dass Hamas sich darauf beschränke, ihre zivile Seite auszubauen. Die Hamas wurde demnach als vorerst gemäßigt, die Hisbollah als Hauptfeind gesehen. Die sensorische Aufmerksamkeit ging also in die falsche Richtung.

Erschwerte Aufklärungsbedingungen in Gaza

Diese Fehleinschätzung käme laut Conrad auch daher, dass eine geheimdienstliche Aufklärung in Gaza sich kompliziert gestalte. Der Hauptgrund sei der Grenzzaun, welcher Israel schützen sollte, der aber gleichzeitig ein geschütztes und kontrollierbares Areal für die Gegenseite schuf, in dem es schwer sei, die Hamas zu infiltrieren.

Die Israelis hätten daher die Hamas militärisch unterschätzt und seien von einem veralteten Lagebild ausgegangen, laut dem die Hamas lediglich in unorganisierten Zellenstrukturen arbeite. Zudem ging man davon aus, dass  moderne Techniken wie Jamming, also dem Einsatz von Störsendern, und ähnliches seitens der Hamas nicht möglich seien.

Geheimdienst-Experte Gerhard Conrad

Während die israelischen Geheimdienste wenig Erfolg hatten, das tatsächliche Potential der Hamas zu analysieren, sei es der Hamas durchaus gelungen, eine umfangreiche Aufklärung im Grenzgebiet zu betreiben, die nicht bemerkt worden war. Auch Trainingsaktivitäten der Hamas-Spezialkräfte seien nicht bemerkt worden. Diese Trainingsaktivitäten hätten oft im Iran stattgefunden, in den die Hamas-Kämpfer als Pilger getarnt gelangten.

Insgesamt sei der menschliche Quellenzugang defizitär gewesen. Dennoch hätte man aufgrund der richtigen Analyse der vorhandenen Informationen zumindest Verdacht schöpfen müssen, so Conrad. Es handele sich also um Analysefehler, die Informationen seien zur Kenntnis genommen, aber verworfen worden.

Man habe sogar Zugang zum Angriffsplan gehabt, diesen aber als überambitioniert abgetan und nicht ernst genommen. Auf Grundlage des veralteten Lagebilds habe man die Durchführung eines solchen Vorhabens der Hamas nicht zugetraut. Alles in allem eine völlig unzureichende Einschätzung der Bedrohungslage.

Welche Lehren gibt es für moderne Geheimdienste?

Das geschilderte Versagen der israelischen Geheimdienste sei aber kein Einzelfall, wie Conrad ausführte. Auch im Hinblick auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf die USA oder den Angriff Putins auf die Ukraine lassen sich ähnliche Fehler feststellen – und das seien nur die prominentesten Beispiele.

Ein grundlegendes und wiederkehrendes Problem sei dabei die Abwehr von „nicht-willkommenden Geheimdienste-Informationen“, die den Wunschvorstellungen führender Personen aus Geheimdiensten, Politik oder Militär zuwiderlaufen. Es herrsche oft eine kognitive Dissonanz, die zu unrealistischen Lagebildern führe und wichtigen Änderungen im Weg stehe.

Conrad fordert daher ein systemimmanentes Denken, also eine Fokussierung auf die inneren Strukturen und Zusammenhänge eines Systems, anstatt auf äußere Einflüsse wie die eigenen (Wunsch-)Vorstellungen. Tatsächlich gebe es in vielen Geheimdiensten bereits kleinere Analyseeinheiten, die systemimmanent analysieren und bereit seien, unbekannte Denkmuster anzuwenden, deren Wirkung sei aber derzeit noch zu begrenzt, so Conrad.

Ein interessanter gedanklicher Ansatz zum Abschluss des Abends – und vielleicht die Zukunft moderner Geheimdienst-Arbeit? Wir bleiben an dem Thema dran…


Autor: Florian Schimikowski

Veröffentlicht am: 27.05.2025