Rückblick: Einfach umgemäht … – Die toten Kinder der deutsch-deutschen Grenze

Die Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze gehören zu den besonders dunklen Kapiteln der DDR-Geschichte. Dabei kamen nicht nur Erwachsene, sondern auch jugendliche Flüchtlinge ums Leben. Bernhard Priesemuth gab im Deutschen Spionagemuseum Einblicke in seine Forschungsergebnisse zu diesem Thema.

Beispielhafte Einzelschicksale berühren

Im Gespräch mit dem Historiker und Moderator des Abends, Christian Halbrock, schilderte Bernhard Priesemuth, was seine Forschungen Mitte der 1990er-Jahre ans Licht brachten. Beispielhaft berichtete er unter anderem vom Todesfall des Schüler Heiko Runge im Jahr 1979.

Am 8. Dezember 1979 unternahmen die beiden Freunde Heiko Runge und Uwe Fleischhauer einen Fluchtversuch im Harz. Wie vielen Flüchtlingen war ihnen nicht bewusst, dass jede Manipulation am Grenzzaun sofort elektronisch erfasst wurde und den Einsatz der Grenztruppen auslöste. Sobald diese die Jugendlichen entdeckten, eröffneten sie umgehend das Feuer – so wie es die Dienstvorschrift vorsah. Runge wurde tödlich getroffen, Fleischhauer festgenommen.

Bernhard Priesemuth im Deutschen Spionagemuseum

Von diesen Vorgängen erfuhren im Nachhinein nur wenige Personen. Das Schweigen von Einsatz- und Lehrkräften über die minderjährigen Opfer war laut Priesemuth staatlich angeordnet. Offiziell wurden die Todesfälle lediglich als Unglücksfälle im Grenzgebiet eingestuft.

Das Vorgehen der DDR-Behörden ähnelte sich in solchen Fällen, wie Priesemuth an den Beispielen der ebenfalls von Grenzern erschossenen Jörg Hartmann und Lothar Schleusener erläuterte. Beide wurden am 1966 im Grenzbereich Treptow erschossen – beim Spielen an der Berliner Mauer. Die Todesursache wurde, auch gegenüber den Familien, bis nach 1989 verschleiert. Alle diese Fälle verschwanden für lange Zeit in den Schubladen der DDR-Bürokratie.

Späte Ermittlungen gegen Todesschützen

Erst Anfang der 1990er-Jahre brachten Nachforschungen des Bundesfamilienministeriums diesen und weitere Fälle zurück ans Tageslicht. Bernhard Priesemuth war einer der Ermittler. Mehrere der damaligen Todesschützen mussten sich wegen dieser Erkenntnisse vor Gericht verantworten.

Die Ermittlungen gefalteten sich schwierig, wie Priesemuth berichtete, den oftmals wurden Obduktionsberichte und Totenscheine bewusst manipuliert, um die Vorgänge zu verschleiern. Auch seien viele Unterlagen vernichtet worden. Maßgeblich an der Vertuschung mitgewirkt hat die Staatssicherheit der DDR, wie Akten des Stasi-Unterlagen-Archivs beweisen.

Christian Halbrock, Bernhard Priesemuth (v.l.n.r.)

Offenbar war man sich der moralischen Verwerflichkeit des rigorosen Vorgehens gegen Minderjährige durchaus bewusst, auch wenn diese offiziell als „Staatsfeinde“ tituliert wurden. Anders ist es nicht zu erklären, dass man eine starke Rufschädigung des DDR-Regimes fürchtete, sollten Details zu den Fällen an die Öffentlichkeit gelangen. Und auch rechtlich waren die Vorgänge ein Problem: Laut DDR-Recht durfte nicht auf Minderjährige geschossen werden.

Gegenwärtige geht man von etwa 30 Todesfällen von Minderjährigen an der deutsch-deutschen Grenze aus, es ist aber durchaus möglich, dass die Ziffer höher liegt. Aufgrund der Vertuschung werden sich nicht alle Fälle rekonstruieren lassen, sodass eine Dunkelziffer bestehen bleibt.


In der nächsten Veranstaltung im Deutschen Spionagemuseum am 17. Oktober 2023 geht es um die aktuelle Arbeit des BND. Experten diskutieren, wie  die Möglichkeiten und Probleme bei der Kontrolle des deutschen Auslandsnachrichtendiensts.

Autor: Florian Schimikowski

Veröffentlicht am: 29.09.2023