Wilhelm Canaris war zweifellos eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Weltkriegsspionage. Als Spionagechef der Wehrmacht wurde er nach dem misslungenen Attentat auf Adolf Hitler 1944 abgesetzt, verhaftet und im April 1945 hingerichtet. Der Grund: Hitlers Chefspion unterhielt Kontakte zum Widerstand gegen das NS-Regime. Canaris war also beides – Leiter der NS-Spionage im Amt Ausland/Abwehr der Deutschen Wehrmacht und im Dunstkreis des konservativen Widerstandes zugleich. Dies gilt heute als Fakt.
Die entscheidende Frage, so fasste Dr. Winfried Meyer, Experte für die NS-Geheimdienste an der Technischen Universität Berlin zusammen, ist vielmehr: Seit wann war Canaris im Widerstand? Hierzu gehen die Meinungen auseinander. Dazu diskutierte Meyer mit Heiko Suhr, der gerade seine Promotion mit einer neuen Biografie über Canaris abschloss.
Einen wichtigen Wendepunkt für Canaris stellte laut den beiden Historikern die sogenannte Blomberg-Fritsch-Krise von 1938 dar. Dabei handelte es sich um die Absetzung des Reichkriegsministers und des Oberbefehlshabers des Heeres, die Hitlers aggressiven Kriegsplänen ablehnend gegenüberstanden. Gestützt wurde die Absetzung durch fadenscheinige Vorwürfe. Canaris zeigte sich von der Behandlung verdienter Militär dermaßen schockiert, dass seine Loyalität gegenüber dem NS-Staat ins Wanken geriet.
Auch die geringschätzigen nationalsozialistischen Anschauungen gegenüber Behinderten dürften laut Suhr zu Canaris Bedenken beigetragen haben. Dieser hatte selbst eine geistig-behinderte Tochter. Und schließlich ist in Canaris ritterlichen Kriegsbild ein wichtiger Grund für dessen Abkehr von Hitler zu suchen. Schon im 1. Weltkrieg zeigte sich Canaris entsetzt, wenn kriegerische Handlungen sich abseits der völkerrechtlichen Maßstäbe bewegten. Entsprechend erschüttert wirkten auf ihn die ersten Eindrücke des Polen-Feldzugs. Früh reifte in ihm die Erkenntnis, dass es einen ehrenhaften Krieg mit Hitler nicht geben würde.
Als zweite Kernfrage ging es Meyer und Suhr darum aufzuzeigen, wie stark Canaris sich tatsächlich engagierte. Fest stand für beide, dass Canaris anders als einige seiner Gefolgsleute kein über Jahre wirkender Aktivposten des Widerstands war. Stattdessen entwickelte sich seine Beteiligung prozessual und passte sich dabei stets den äußeren Umständen an. Seine aktiven Schritte gegen Hitler resultierten vor allem aus seinen Überzeugungen als loyaler Militär gegenüber seinem Vaterland.
Vor dem Krieg war Canaris Teil einer Kriegsverhinderungs-Partei, die vergeblich versuchte, Hitler von seinen Plänen abzubringen. Nach dem Überfall auf Polen begann er, persönlichen Bekannten unter dem Deckmantel der Agententätigkeit zur Flucht aus Deutschland zu verhelfen. Als Spionagechef deckte Canaris seine im Widerstand deutlich aktiveren Untergebenen und unterhielt geheime Verbindungen ins Ausland.
Dort verhandelte er inoffiziell über einen Separatfrieden oder eine Teilkapitulation der Wehrmacht und verriet Schlachtpläne. Welche konkreten Ziele Canaris mit solchen Tätigkeiten verfolgte, ist Suhr zufolge schwer zu beurteilen. Vermutlich ging es vor allem darum, für den Widerstand geheime Kommunikationskanäle zum Westen zu etablieren und das Misstrauen westlicher Nachrichtendienste gegenüber dem deutschen Widerstand abzubauen – mit bedingtem Erfolg.
Gleichzeitig aber etablierte Canaris die Abwehr als Säule des NS-Staates und unterstützte Hitler Krieg mit zahlreichen geheimdienstlichen Informationen und Operationen. Vor allem die der Abwehr unterstellte Geheime Feldpolizei arbeitete dabei eng mit SS zusammen. Ein klar definiertes Fazit, ob Canaris als Held zu verehren oder als Mittäter zu verurteilen ist, lässt sich den beiden Historikern zufolge nicht formulieren.
Laut Suhr wandelte sich Canaris nie ganz vom Nachrichtendienstchef zum Widerständler. Man solle hier nicht von einem Gegensatz der beiden Positionen sprechen, es handele sich vielmehr um fließende Grenzen. Diese Vielschichtigkeit resultiere letztlich in dem Schluss, dass Canaris keine reine Lichtgestalt darstelle, sondern eine zutiefst menschliche: mit all ihren Irrtümern, Fehlern und Brüchen.
Die nächste Veranstaltung am 24. März 2020 befasst sich mit der Gegenwart. Experten aus Politik, Nachrichtendienst, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft diskutieren zur Transparenz der Geheimdienste.
Autor: Florian Schimikowski
Veröffentlicht am: 09.03.2020